Veröffentlicht bei der TAZ
m Ende bemerkte Thomas J., dass es eng wird. Er hatte eine Polizistin an seinem Fahrrad gesehen, als es angeschlossen im Berliner Stadtteil Wedding stand, damals, am 21. Oktober vergangenen Jahres. Er sei später dennoch mit dem Rad losgefahren – als ihn plötzlich mehrere Beamte eines Einsatzkommandos mit gezückten Waffen vom Sattel gezogen und festgenommen hätten. Da war seine Flucht, nach zwei Jahren, vorbei. „Es war klar, dass das eines Tages passieren kann“, sagt Thomas J. gelassen. „Darauf hatte ich mich lange vorbereitet.“
J. sitzt, als er das erzählt, an einem Aprilvormittag im Besucherraum der JVA Moabit in Berlin, ein wuchtiger Bau hinter meterhohen Mauern, eines der größten Untersuchungsgefängnisse Deutschlands. Der muskulöse 48-Jährige, volltätowierte Arme, schwarzes Shirt, spricht ruhig und höflich, die Hände legt er gefaltet auf den Tisch. Der Raum ist hell und in die Jahre gekommen, auch andere Gefangene empfangen dort gerade Besuch, beaufsichtigt von JVA-Mitarbeitenden.
Auf Thomas J. aber richten sich besonders genaue Blicke. Bevor er hereingeführt wurde, war er penibel kontrolliert worden, musste sogar seine Armbanduhr abgeben. An seinem Besuchertisch sitzen nun noch zwei mittelprächtig gelaunte LKA-Beamte mit Schreibblock und machen sich Notizen.
Denn J. gilt den Sicherheitsbehörden momentan als einer der gefährlichsten Linksextremen in Deutschland. Der Mann aus Berlin-Kreuzberg soll der Kampftrainer der Autonomen-Gruppe um die Leipzigerin Lina E. gewesen sein, die ab 2018 mehrere schwere Angriffe auf Rechtsextreme in Sachsen und Thüringen begangen haben soll, auch mit Schlagstöcken und Hämmern. So jedenfalls sieht es die Bundesanwaltschaft. Schon den Fall Lina E. hatte die oberste Ermittlungsbehörde an sich gezogen. Es war eine Zäsur im Kampf der Sicherheitsbehörden gegen militante Linke.
Der Verfassungsschutz konstatierte einen Strategiewechsel der Szene: Habe dort vorher Gewalt gegen Sachen für vermittelbar gegolten, nicht aber Gewalt gegen Menschen, habe dieser Grundsatz keinen Bestand mehr. Der Geheimdienst sah die Szene „an der Schwelle zum Linksterrorismus“ stehen. Die damalige Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warnte, in linksextremen Gruppen seien „Hemmschwellen gesunken, politische Gegner auch mit äußerster Brutalität anzugreifen“. Beim LKA Sachsen wurde eine Soko Linx gebildet. Es folgten bundesweit Razzien und Festnahmen.
So viele Antifaschist*innen in Haft wie lange nicht
Nun sitzen so viele Antifaschist*innen in Haft wie seit vielen Jahren nicht. Und Lina E. und drei Mitangeklagte wurden bereits vor zwei Jahren vor dem Oberlandesgericht Dresden zu Haftstrafen von bis zu fünf Jahren verurteilt.
Und jetzt folgt der nächste Schlag der Bundesanwaltschaft. Ende vergangener Woche verschickte sie Anklagen gegen sieben weitere Antifaschist*innen, die sie der Gruppe um Lina E. zurechnet. Eine Anklage ging an Thomas J. Die Vorwürfe: Mitgliedschaft in oder Unterstützung einer linksextremistischen, kriminellen Vereinigung, gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung, Sachbeschädigung. Neben Thomas J. kommen die anderen angeklagten Linken aus Berlin und Leipzig, sind deutlich jünger als er: Johann G., Tobias E., Paul M., Melissa K., Henry A. und Julian W. Ihr Prozess soll vor dem Oberlandesgericht Dresden geführt werden.
Vor allem auf Johann G. hatten es die Ermittler abgesehen. Der 31-jährige frühere Geschichtsstudent gilt als eigentlicher Kopf der Gruppe, Spitzname „Gucci“ – er war früher der Lebensgefährte von Lina E. Die Polizei führt ihn als einen von derzeit zehn linken Gefährdern bundesweit. Auf den Knöcheln seiner Hände steht tätowiert: „Hate Cops“. Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) nennt ihn den „Drahtzieher“.
Ein Kronzeuge, der Szeneabtrünnige Johannes D., hatte bei der Polizei Johann G. und Lina E. schwer belastet: Sie hätten zu Trainings und Überfällen eingeladen, dafür Autonome aus mehreren Städten rekrutiert. Ziel sei es gewesen, die Neonazis „nachhaltig“ zu verletzen, sie „psychisch zu brechen“. Mindestens sechs Überfälle soll ihre Gruppe verübt haben – bei fast allen soll Johann G. dabei gewesen sein.
Nach einem Angriff auf den rechtsextremen Kneipenwirt und Kampfsportler Leon Ringl im Oktober 2019 in Eisenach, nach dem am Tatort Blut von ihm zurückblieb, tauchte G. ab. Fast fünf Jahre war er auf der Flucht, angeblich bis nach Thailand. Bis zu 10.000 Euro waren für Hinweise auf ihn ausgelobt. Dennoch soll er noch im Februar 2023 bei Angriffen auf Rechtsextreme in Budapest dabei gewesen sein, am Rand des europaweiten Aufmarschs „Tag der Ehre“. Bevor er dann im vergangenen November in einem Regionalzug in Thüringen gefasst wurde, angeblich auf dem Weg zu einer Freundin.
Thomas J. wurde lange von Fahndern gesucht
Auch Thomas J. wurde lange von Fahndern gesucht. Schon im Sommer 2022 hatte die Polizei seine Kreuzberger Wohnung durchsucht. Ein Haftbefehl lag da gegen ihn noch nicht vor. Doch nun war J. gewarnt und verschwand. Wo er sich in den zwei folgenden Jahren aufhielt, will er in der JVA Moabit, neben den zwei LKA-Beamten, nicht sagen. Klar aber ist, dass sein Umfeld überwacht wurde.
Im Mai 2023 hatte ihn die Polizei eigentlich schon erwischt: Sie stoppte ihn in einem Auto bei einer Kontrolle in Brandenburg – aber Thomas J. sei davongerast, so hieß es damals. In der JVA sagt er, so sei es nicht gewesen: Die Beamten hätten ihn schlicht nicht festgesetzt, denn einen Haftbefehl habe es damals immer noch nicht gegeben. Am Ende sollen ihm die Ermittler auf die Spur gekommen sein, weil er mit seiner EC-Karte Geld abgehoben hatte – und der Geldautomat daraufhin überwacht wurde. So behauptete es zumindest die Bild direkt nach der Festnahme.
Dass Thomas J. in der Berliner Antifa-Szene aktiv ist, ist dagegen kein Geheimnis. Als einer der Älteren ist er dort breit bekannt, Spitzname „Nanuk“, nach seinem früheren Hund. Oder als „KW-Thomas“, nach seinem Geburtsort Königs Wusterhausen, einer Kleinstadt südlich von Berlin, in der er bis zu seinem 27. Lebensjahr lebte. Einige kennen ihn auch aus dem Kampfsport, wo er seit Jahren aktiv ist und auch Selbstverteidigungskurse anbietet, nach eigener Auskunft auch für Firmen. Zuletzt arbeitete er zudem als Sicherheitsmann oder Industriekletterer.
Die Ermittler aber werfen Thomas J. vor, zwei Kampfsporttrainings auch für die Gruppe um Lina E. und Johann G. angeboten zu haben – um sie gezielt für Angriffe auf Neonazis vorzubereiten. Eines soll im August 2019 in einem linken Hausprojekt in Leipzig stattgefunden haben, ein zweites ein Jahr später. Zwischendurch, im Oktober 2019, soll Thomas J. auch beim ersten von zwei Angriffen der Gruppe auf den Eisenacher Neonazi Leon Ringl dabei gewesen sein. Auch an einer zweiten „Ausfahrt“ sei Thomas J. dabei gewesen – ohne aber dass es hier zu einem Angriff kam.
Dazu beunruhigt die Sicherheitsbehörden, dass Thomas J. ab 2014 wiederholt in Rojava gewesen sein soll, der autonomen kurdischen Enklave in Nordsyrien. Springer-Blätter zitierten Ermittler, er sei dort „Scharfschütze“ gewesen. Auch wird ihm vorgeworfen, in der Silvesternacht 2018 bei linken Angriffen auf eine Außenstelle des Bundesgerichtshofs in Leipzig und auf ein Burschenschaftsgebäude dabei gewesen zu sein.
Faeser: „Niemand kann sich im Untergrund sicher fühlen“
Als Thomas J. schließlich am 21. Oktober vergangenen Jahres festgenommen wird, äußert sich selbst die damalige Innenministerin Faeser und spricht von einem „wichtigen Ermittlungserfolg“. Der Rechtsstaat habe „einen langen Atem im Kampf gegen gefährliche Linksextremisten“, so die Sozialdemokratin. „Niemand kann sich im Untergrund sicher fühlen“.
Ob es stimme, was über ihn in der Zeitung stehe, hätten ihn Mitgefangene gefragt, als er in den Knast kam, erzählt Thomas J. in der JVA Moabit. Er gibt sich über die Vorwürfe gelassen, fast belustigt. Allerlei „wilde Sachen“ stünden im Haftbefehl, sagt der 48-Jährige. Darüber reden darf er beim Besuch in der JVA nicht – die LKA-Männer untersagen, über Verfahrensinhalte zu sprechen.
Thomas J. verweist darauf, dass auch die Vorwürfe gegen ihn alle auf dem Kronzeugen Johannes D. basierten. „Und der hatte ein Interesse, den Behörden etwas zu liefern, um selbst davonzukommen.“ Wie genau denn die Trainings ausgesehen haben sollen, fragt er noch. Und dass er nicht wüsste, dass es Scharfschützen bei der kurdischen YPG („Volksverteidigungseinheiten“) gäbe. Alles andere werde sich vor Gericht zeigen. „Ich freue mich auf den Prozess.“
Dass Thomas J. in Rojava war, ist gut möglich. Polizisten fanden in seiner Wohnung Gewehrutensilien. Und ein taz-Protokoll von 2017, in dem ein anonymer Berliner Aktivist seine Kampfeinsätze in Rojava gegen den IS schildert. Die Ermittler glauben, dieser Aktivist sei Thomas J. Im taz-Text erzählt der Protagonist, er habe, nach 20 Jahren im autonomen Antifaschismus, nach einer neuen Perspektive gesucht. In Rojava werde versucht, eine neue Gesellschaft aufzubauen, es sei eine Revolution. „Ich habe mich entschieden, Teil dieser Revolution zu werden.“ Die Ermittlungen zu Thomas J.s womöglicher Rojava-Zeit hat die Bundesanwaltschaft inzwischen jedoch eingestellt. Auch vom Vorwurf der Angriffe in Leipzig ist nur noch ein Landfriedensbruch übrig.
Die Bundesanwaltschaft aber hängt auch die anderen Vorwürfe hoch, die Angriffe der Gruppe von Lina E. und Johann G. In ihrer Anklage betont sie, wie gezielt die Rechtsextremen im Vorfeld ausgespäht worden seien, bevor sie attackiert wurden. Wie sie bei den Angriffen teils schwer verletzt wurden. Beim Angriff im Oktober 2019 in Eisenach, auf die Szenekneipe „Bulls Eye“ des Neonazis Leon Ringl, bei dem Thomas J. dabei gewesen sein soll, wurde ein knappes Dutzend Gäste verletzt, das Inventar zerstört. Die vermummten Angreifer flohen damals. Es war die Tat, bei der vor Ort Blut von Johann G. zurückblieb.
Und es war Kronzeuge Johannes D., der den Ermittlern erzählte, dass auch Thomas J. bei dem Angriff dabei gewesen sei. Der Kindergärtner war lange Zeit ebenso Teil der Berliner autonomen Szene, auch er gehörte zu den Beschuldigten der Gruppe um Lina E. und Johann G. Als der 32-Jährige im Herbst 2021 wegen Vergewaltigungsvorwürfen aus der Szene verstoßen wurde, wandte er sich an den Verfassungsschutz – und packte bei der Polizei über die Gruppe aus, elf Tage lang. Nannte Namen, wer an welchen Überfällen beteiligt gewesen sein soll. Auch den von Thomas J.
Nur: Außer bei einem Angriff will Johannes D. bei keiner Tat dabei gewesen sein. Auch nicht bei der im Oktober 2019 in Eisenach. In einem Berliner Park aber habe „Thomas“ von diesem Überfall erzählt und dass Johann G. dort Blut verloren habe, berichtete Johannes D. nach taz-Informationen den Ermittlern. D. habe aus der Erzählung geschlossen, dass Thomas J. bei der Aktion dabei gewesen sein muss. Zudem habe „Thomas“ ein Training für 50 Antifas in Leipzig geleitet, erzählte Johannes D. den Ermittlern. Geübt worden sei etwa ein „Überwältigen von politischen Gegnern“, eingeladen hätten damals Johann G. und Lina E. Und Johannes D. schilderte noch die langjährigen Erfahrungen von Thomas J. in der militanten Szene, im Umfeld des Hausprojekts Rigaer 94 in Berlin-Friedrichshain – konkret wird er auch hier nicht.
Anwältin hält die Aussagen des Kronzeugen für wertlos
Thomas J.s Anwältin Antonia von der Behrens hält die Aussagen des Kronzeugen Johannes D. für wertlos. Dessen Behauptungen seien reine Mutmaßungen und angebliches Wissen vom Hörensagen, sagt sie. Es gebe keinerlei Beweise, dass Thomas J. in Eisenach dabei gewesen sei oder was genau bei dem Training in Leipzig passiert sein soll. Johannes D. habe mit Thomas J. schlicht jemanden benannt, den die Ermittler – anders als Lina E. oder Johann G. – noch nicht kannten und an dem die Polizei ein Interesse hatte. Um sich so einen Strafrabatt zu verschaffen – den er später auch bekam.
Die Behörden und Gerichte aber halten den Kronzeugen Johannes D. bis heute für glaubwürdig – und Thomas J. für gefährlich. An der Tür seiner Zelle in der JVA Moabit hingen lange Zeit farbige Punkte, die einen „besonderen Beobachtungsbedarf“ und erhöhte Sicherheitsauflagen markierten. Anfangs wurde stündlich seine Zelle kontrolliert, er durfte sich nur in Begleitung von Aufseher*innen durch das Gefängnis bewegen, „Hand in Hand“. Bis heute wird ihm ein „Aufschluss“ verwehrt, das stundenweise freie Bewegen mit Mitgefangenen auf der Station. Über Monate wurde ihm keine Post ausgehändigt, teilweise auch die seiner Anwältin nicht. Im März erhielt Thomas J. dann nach eigener Auskunft 100 Briefe auf einmal. Als er zum Haftrichter nach Karlsruhe gefahren wurde, in einem Tross von drei Polizeitransportern, verbrachte er neun Stunden gefesselt – nach eigener Auskunft ohne Toilettenpause, ohne Verpflegung.
Thomas J. nennt die Gründe für seine Haft „fadenscheinig“. Er gibt sich dennoch recht unbeeindruckt. Der Knast sei nicht so schlimm, wie man denkt, sagt er. „Das ist kein Drama hier, kein dunkles Loch. Man muss davor keine Angst haben. Ich kann hier durchaus etwas selbstbestimmt machen.“ Aber er sei eben auch privilegiert. „Ich spreche Deutsch, habe Unterstützung, eine starke Mutter.“ Anderen Gefangenen könne er mit Anträgen helfen, teile mit ihnen Zeitungsartikel oder spiele Tischtennis. Es sei auch sein Alter, das ihn gelassener mache, sagt Thomas J. „Ich hab schon einiges erlebt. Für Jüngere knallt der Knast sicher noch mehr rein.“
Seine Anwältin Antonia von der Behrens hält es für rechtlich untragbar, dass ihr Mandant überhaupt in Haft ist. „Das Bild, das die Behörden und die Springerpresse von meinem Mandanten zeichnen, ist völlig überzogen. Selbst nach dem Haftbefehl des Bundesgerichtshofs hatte er nur eine randständige Rolle.“
Das Bild, das die Behörden und die Springerpresse von meinem Mandanten zeichnen, ist völlig überzogen
Antonia von der Behrens, Anwältin
Es werde ihm nur die Unterstützung einer kriminellen Vereinigung vorgeworfen und die Beteiligung an einer gefährlichen Körperverletzung. „Und diese Vorwürfe beruhen allein auf den alten Angaben des Kronzeugen. Neue Ermittlungen hat es faktisch nicht gegeben“, so von der Behrens. „Es gibt keinerlei Gründe dafür, dass er auch noch nach über sieben Monaten in Haft sitzt.“ Tatsächlich saßen auch im ersten Prozess gegen Lina E. die drei Mitbeschuldigten nicht in Haft. Bei Thomas J. aber verweist die Bundesanwaltschaft auf sein vorheriges Abtauchen – und auf ihren Kronzeugen Johannes D.
Der Berliner Tobias E. saß bereits in Ungarn in Haft
Und der belastete auch die anderen nun Angeklagten. Auch sie sollen bei Angriffen der Gruppe um Lina E. und Johann G. dabei gewesen sein, bei Trainings oder anderen Treffen. Etwa der nun beschuldigte Berliner Tobias E., der beim zweiten Angriff in Eisenach dabei gewesen sein soll und bei einem weiteren in Dessau. Er war zuletzt in Ungarn inhaftiert, ein ungarisches Gericht verurteilte den 31-Jährigen zu drei Jahren Haft, die später auf gut anderthalb Jahre verkürzt wurden. Nachdem Tobias E. diese in Ungarn abgesessen hatte, wurde er im Dezember nach Deutschland ausgewiesen – wo ihn die Polizei sofort wieder festnahm.
Seitdem sitzt Tobias E. in der JVA Burg, einem Hochsicherheitsgefängnis in Sachsen-Anhalt, wo ihn die taz kürzlich besucht hat. Auch bei dem Gespräch saß eine Mitarbeiterin des LKA dabei, auch Tobias E. konnte deshalb nicht über die Vorwürfe der Bundesanwaltschaft reden. Stattdessen berichtete er über seine Haftzeit in Ungarn, die von „Gewalt und Willkür“ geprägt gewesen sei. Und auch seine Anwältin Anna Luczak nannte die Beweislage gegen ihn zuletzt als „dünn“, die Haft „völlig unnötig“. Die Bundesanwaltschaft aber hängt auch seinen Fall hoch: Zuvor hatte eigentlich bereits die Staatsanwaltschaft Gera Anklage gegen Tobias E. erhoben – diese dann aber zurückgenommen, damit die Bundesanwaltschaft übernehmen kann.
Für Antonia von der Behrens, die Anwältin von Thomas J., ist das Vorgehen der Bundesanwaltschaft nicht nachzuvollziehen. Das Verfahren sei „aufgebläht“, die Bundesanwaltschaft wolle „einen neuen Mammutprozess gegen Antifaschisten“, kritisiert sie. Dafür würden „völlig unterschiedliche Sachverhalte und Personen über die Konstruktion einer kriminellen Vereinigung verbunden“. Ein faires Verfahren sei schon heute „höchst zweifelhaft“.
Bei der Bundesanwaltschaft aber steht die nächste Anklagerunde schon bevor: wegen der Angriffe in Budapest. Weitere sieben Autonome sitzen deshalb derzeit in Haft. Ein weiterer Beschuldigter, der Syrer Zaid A., ist haftverschont – ihm droht als Nichtdeutschem die Auslieferung nach Ungarn. Für die anderen sieben hat die Bundesanwaltschaft bereits erklärt, die Verfahren in Deutschland führen zu wollen.
Eine Gruppe von Budapest-Gesuchten stellte sich freiwillig
Die Budapest-Gesuchten waren fast zwei Jahre abgetaucht, ehe sie sich im Januar stellten. Eine Person war von Zielfahndern des sächsischen LKA schon vorher gefasst und nach Ungarn ausgeliefert worden – rechtswidrig, wie das Bundesverfassungsgericht zuletzt feststellte: die 24-jährige nonbinäre Thüringer*in Maja T. Sie befindet sich derzeit in Ungarn im Hungerstreik.
Die linke Szene brauchte etwas Anlauf, inzwischen antwortet sie mit breiter Solidarität. Vor den Gefängnissen, in denen die inhaftierten Antifas sitzen, gab es Kundgebungen. Am 14. Juni soll in Jena eine bundesweite Demonstration stattfinden. Auch vor der JVA Moabit wurde für Thomas J. demonstriert. In der Stadt fordern Graffiti seine Freilassung. Als Unterstützer*innen für ihn eine Solidaritätsveranstaltung im Kreuzberger Club SO36 organisierten, war der Laden proppenvoll. Auf der 1.-Mai-Demo in Berlin wurde in einem Redebeitrag auf seinen Fall hingewiesen – mit dem Appell, sich nicht spalten zu lassen. Thomas J. sei „einer von uns“, heißt es in einem Szeneaufruf. Er gehöre nicht ins Gefängnis, „sondern mit uns allen auf die Straße“.
Aufwachsen während der Baseballeschlägerjahre in Brandenburg
Thomas J. freut sich über die Unterstützung. Und er erzählt im Besucherraum der JVA, wie er zur Antifa kam. Und das hat mit Königs Wusterhausen zu tun. Anfang der neunziger Jahre wuchs er dort als Teenager auf, in den Baseballschlägerjahren. Es ist die Zeit, als in Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda oder Mölln Rechtsextreme Pogrome verüben, in der es nicht nur in Brandenburg tödliche Angriffe auf Migranten oder junge Punks gab. „Die Opfer waren Jugendliche wie ich“, sagt Thomas J. Man habe sich früh entscheiden müssen, ob man rechts oder links stehe. Für ihn sei die Entscheidung klar gewesen. Und als Linker sei er vor Ort bei den Nazis bekannt gewesen.
„Das war eine enthemmte Zeit. Die Gewalt kam damals zu uns.“ Freunde von ihm seien zusammengeschlagen worden, Rechtsextreme in Wohnungen eingedrungen, später wurden bei Neonazis Rohrbomben gefunden. Im Sommer 1991 sei in einem Ortsteil auf linke Hausbesetzer geschossen worden – der Täter habe in seiner Straße gewohnt, erzählt Thomas J. Im Mai 1992 wurde dann ein nigerianischer Aslysuchender von Neonazis in Königs Wusterhausen zusammengeschlagen und in einen See geworfen. Er überlebte nur knapp. Einer der Täter: der damals 22-jährige Carsten S., der dafür zu acht Jahren Haft verurteilt wird, aber früh frei kommt, weil er sich als V-Mann anwerben lässt, Tarnname „Piatto“. Und der später im Umfeld des NSU-Trios auftaucht.
Im November 1992 seien dann „die beiden Marios“ tot neben S-Bahngleisen bei Königs Wusterhausen gefunden worden, zwei 17-Jährige. Die Polizei ging von einem Unfall zweier Sprayer aus, ihre Freunde aber verwiesen darauf, dass sie auch Antifas waren und zuvor rechte Morddrohungen erhielten. Einige Monate später sei Jeff, ein Schwarzer, von einem Rechtsextremen überfahren worden – er starb einige Tage später. Der Täter sei auf seine Schule gegangen, sagt Thomas J. „Die Gewalt war sehr real und sehr nah. Und eines der Targets war auch ich.“
Tatsächlich habe es damals auch einen versuchten Angriff auf ihn gegeben, berichtet Thomas J. Er habe ihn abwehren können. „Es gab nur eine Wahl: Entweder du rennst oder du wehrst dich.“ Es sei schnell klar gewesen, dass sich die Linken vor Ort organisieren müssten, sagt er. „Es gab damals keine Polizei und keinen Staat, die gekommen wären. Und die Eltern der Nazis waren mit der Wendesituation beschäftigt. Wir mussten uns selber helfen.“ Er habe sich damals mit anderen Linken auf dem evangelischen Kirchhof getroffen, habe Selbstverteidigung eingeübt und Telefonketten vereinbart, sei mit einem Messer zur Schule gegangen.
Im Juli 2001 wird Thomas J. dann wieder zum Ziel. Mit anderen schläft er nachts auf einer Bühne eines linken Festivals in Königs Wusterhausen, um das Gelände zu schützen. Als plötzlich Brandsätze auf die Bühne fliegen, geworfen von zwei Rechtsextremen. „Wir wurden wach, als die Mollis über uns flogen“, erinnert sich Thomas J. Dass niemand schwer verletzt wurde, sei Zufall gewesen. „Es war klar, wer die Täter waren, die wurden damals überwacht.“ Dennoch habe es Jahre gedauert, bis diese vor Gericht standen und verurteilt wurden.
Notwehr oder Selbstjustiz
Wie weit die antifaschistische Selbstverteidigung zuletzt in Teilen der linken Szene ging, darüber wird nun demnächst vor dem Oberlandesgericht Dresden verhandelt. Im ersten Prozess, gegen Lina E. und die drei Mitangeklagten, hatte Richter Hans Schlüter-Staats deutliche Kritik an der Gruppe geäußert. Die Bekämpfung des Rechtsextremismus sei zwar ein „achtenswertes Motiv“, sagte er. Aber auch gewalttätige Nazis seien „nicht vogelfrei“. Für die Angriffe habe es „keine nur ansatzweise notwehrähnliche Situation“ gegeben, es sei schlicht Selbstjustiz gewesen.
Thomas J. erinnert in der JVA Moabit dagegen daran, dass der Eisenacher Neonazi Leon Ringl mit seiner Kampfsportgruppe Knockout51 jahrelang Menschen verprügelte und in der Stadt einen „Nazi-Kiez“ errichten wollte. Antifa-Gruppen hätten früh darauf aufmerksam gemacht, ohne dass die Polizei eingeschritten sei. Erst als es zu den Angriffen gekommen war, seien die Behörden aktiv geworden. „Das war nicht irgendwer. Wie weit sollte das noch gehen?“
Thomas J. drohen nun mehrere Jahre Haft. Da er nur als Unterstützer der Gruppe angeklagt ist, könnte er noch am glimpflichsten davonkommen. Die höchste Strafe dürfte Johann G. erwarten – weit mehr als die gut fünf Jahre Haft, die seine frühere Partnerin Lina E. bekam. Thomas J. sagt in der JVA Moabit, er sei „optimistisch“, was den Prozess angehe. „Und was soll passieren? Irgendwann ist auch das hier mit dem Knast vorbei.“